Klassifizierung - Alterssuizidtyp (4/4)

2.4 Existiert ein Alterssuizid-Typ?

In diesem Abschnitt soll erörtert werden, ob aufgrund der bisher beschriebenen und der noch zu beschreibenden Attribute und Merkmale sich so etwas wie ein bestimmter Typ und die Umstände beschreiben lassen, die zum Alterssuizid neigen und führen können. Dabei wird auf die Unterschiede bzw. die Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und Japan eingegangen, sofern diese bestehen.


2.4.1 Räumliche Verteilung

DURKHEIM beschrieb in Le Suicide eine Suizidverteilung, bei der sich im städtischen Raum ihr Maximum widerspiegelt, während ländliche Gebiete eine niedrigere bzw. die niedrigsten Suizidraten aufweisen. Dass diese Annahmen nicht als grundlegend angesehen werden können, wurde schon in Abschnitt 2.2.3 benannt. In diesem Abschnitt soll die geographische Charakteristik bei der Verteilung von Alterssuiziden anhand von beispielhaften Regionen in Japan und Deutschland, die aufgrund ihres ruralen und urbanen Typs ausgewählt worden sind, dargestellt werden.

Eine Untersuchung der regionalen Verteilung von Alterssuiziden im nationalen Raum ist im Allgemeinen für die Demographie, Epidemiologie und eine Prognose zukünftiger Entwicklungen interessant. Gleichzeitig wird eine Möglichkeit zur Problemanalyse, Prävention und Intervention in spezifischen lokalen Problemräumen gegeben [22].

Interessanterweise sind im japanisch-deutschen Vergleich einige Unterschiede bemerkbar, welche im Folgenden näher erläutert werden sollen.

In Japan lässt sich eine relativ eindeutige regionale Verteilung von Alterssuiziden feststellen, die bei den Frauen noch aussagekräftiger ausfällt. Die Suizidraten für das Jahr 2005 in den ausgewählten und ländlich geprägten Präfekturen Aomori, Iwate, Akita im Raum Tôhôku und Niigata aus der Chûbu-Region zeigen eine erhöhte Rate von Suiziden bei Männern im höheren Alter (siehe Abb. 5; S.39). Während bis zum Alter von 74 Jahren in den vier ruralen Präfekturen ein diffuser, aber – teilweise stark - erhöhter Schnitt an Alterssuiziden zu verzeichnen ist, ist die Suizidverteilung ab 75 Jahren eindeutiger und aussagekräftiger: Iwate und Niigata, zwei der gewählten Präfekturen, erreichen mit steigendem Alter höchste Suizidwerte und weisen ab 85 Jahren etwa den doppelten Wert des japanischen Landesdurchschnitts auf (121 bzw. 116 Suizide pro 100.000 Einwohnern); die Alterssuizidrate in Aomori und Akita sinkt ab dem Alter von 84 Jahren und erreicht in etwa die Werte des Landesdurchschnitts. Dahingegen bewegt sich die Alterssuizidrate in Metropolstädten, wie hier im Beispiel Tôkyô und Ôsaka, nah am japanischen Landesdurchschnitt bzw. liegt teilweise darunter und zeichnet sich nur durch einen leichten Anstieg ab dem Alter von 75 Jahren aus.

Diese Beobachtung gilt auch für die Alterssuizidrate bei den Frauen, wobei allerdings die Verteilung noch eindeutiger ausfällt als bei den Männern: in allen vier ländlich geprägten Präfekturen ist ab dem Alter von 70 Jahren ein deutlicher Anstieg der Suizidrate zu beobachten, die im Fall der Präfektur Akita ihren Höhepunkt im Alter von 80-84 Jahren findet dem vierfachen Wert des Landesdurchschnitts (78 Suizide pro 100.000 Einwohnern), während die Alterssuizidraten in Iwate und Niigata moderat steigen. Durch die hohe Rate an weiblichen Suizidenten wird in Akita dadurch untypischerweise beinahe die Suizidrate der Männer erreicht und lässt dadurch Interpretationsspielraum für die Ursachen. Während die Suizidrate der Frauen in Aomori danach abfallend ist, pendeln sich die Raten für Iwate, Akita und Niigata auf dem 2,5-fachen Niveau der Landessuizidrate im entsprechenden Alter ein (siehe Abb. 6).

Somit gilt festzuhalten, dass in Japan eine eindeutige Verteilung von Alterssuiziden zwischen ländlichen und städtischen Regionen zu existieren scheint, welche zumindest die vorgestellten Präfekturen und Städte betrifft. Das rapide Abfallen der Suizidraten in der Präfektur Akita ab dem Alter von 85 Jahren ist Präventivmaßnahmen zuzuschreiben, die MOTOHASHI, KANEKO und SASAKI (2005: 105-106) in der Region beschreiben.

In Deutschland ist eine ähnliche Beobachtung bei den Alterssuizidraten nicht festzustellen. Anhand von vier Bundesländern, der aktuellen und der ehemaligen Hauptstadt und dem deutschen Landesdurchschnitt soll gezeigt werden, dass die Suizidrate in allen Regionen nahezu identisch ist. Da teilweise die Veröffentlichung aktueller Daten in den einzelnen Bundesländern noch aussteht, sind bei den Erhebungen die Jahrgänge 2003 bis 2008 umfasst.

Abbildung 5: Suizidraten der Männer in Japan nach ausgewählten Präfekturen
Quelle: Eigene Darstellung nach MLHW 2007, S. 286-287.

















Abbildung 6: Suizidraten der Frauen in Japan nach ausgewählten Präfekturen
Quelle: Eigene Darstellung nach MLHW 2007, S. 288-289.


















Bei den ausgesuchten Regionen und Städten bilden Nordrhein-Westfalen und Berlin die am dichtesten besiedelten Gebiete, während Bayern, Hessen und Bonn mitteldichte Besiedlung aufweisen und das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern eines der am wenigsten besiedelten Regionen Deutschlands darstellt. Trotz dieser unterschiedlichen Wohndichte der einzelnen Gebiete wird durch beinahe alle Altersgruppen der aufgeführten Städte und Bundesländer deutlich, dass nur unwesentliche Abweichungen der Suizidraten auftreten und diese recht eng bei einander liegen. Einzig die Suizidrate der über 85-jährigen Männer in Mecklenburg-Vorpommern weist eine enorme Größe auf und übertrifft die Alterssuizidraten der anderen Länder und Städte um etwa das Doppelte. Einen Hinweis auf erhöhte Sterblichkeit durch den Alterssuizid im einwohnerärmeren Mecklenburg-Vorpommern kann man aus dem Ausschlag der Raten der über 85-Jährigen herauslesen. Obwohl die Werte in den anderen Altersgruppen nur unwesentlich vom Durchschnitt abweichen und somit die Vermutung nahe liegt, dass es sich um ein Datenartefakt handeln könnte, wird beim Vergleich mit der Darstellung der Suizidrate der Frauen deutlich, dass die Suizidrate über alle Altersgruppen hinweg eine ähnliche Struktur besitzt und erst ab dem Alter von 85 Jahren einen gewaltigen Ausschlag offenbart (Abb. 7; S. 41).

Unter den Suizidraten deutscher Frauen lassen sich ebenfalls kaum Unterschiede feststellen, da die einzelnen Raten in allen Altersgruppen relativ eng beieinander liegen und wenig „Ausreißer“ bzw. Auffälligkeiten aufweisen. Auffallend ist jedoch eine beinahe Verdreifachung der ziemlich niedrigen Suizidrate im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern bei der Altersgruppe der über-85-Jährigen (Abb. 8). Dieses könnte im ersten Moment als Indiz für eine erhöhte Alterssterblichkeit durch Suizide gewertet werden, jedoch muss beachtet werden, dass die Suizidrate Berlins in allen Altersklassen die höchsten Ausprägungen aufweist – trotz der unterschiedlichen Bevölkerungsdichte. Eine eindeutige Aussage bezüglich der regionalen Verteilung von weiblichen Suizidfällen kann im Falle Deutschlands somit nicht getätigt werden.

Ein so regional unterschiedlich ausgeprägtes Auftreten und die Verteilung von Suizidfällen, wie sie in einigen japanischen Präfekturen zu beobachten ist, ist in Deutschland aufgrund mehrerer möglicher Ursachen nicht vorhanden.

Abbildung 7: Suizidraten der Männer in Deutschland nach ausgewählten Bundesländern
Quelle: Eigene Darstellung nach den Todesursachsenstatistiken der Statistikämter der Länder 2003-2008.


















Abbildung 8: Suizidraten der Frauen in Deutschland nach ausgewählten Bundesländern
Quelle: Eigene Darstellung nach den Todesursachenstatistiken der Statistikämter der Länder 2003-2008.





















Zum einen ist die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland mit ihren sechzehn Bundesländern weniger zentralistisch aufgebaut und ausgeprägt als in Japan und dies sowohl im wirtschaftlicher, als auch demographischer Hinsicht. Zwar sind bestimmte industrielle und wirtschaftliche Kernregionen, wie einst das von der Schwerindustrie dominierte Ruhrgebiet oder die Wirtschaftszone des sogenannten pacific belts, sowohl in Japan auch in Deutschland festzustellen jedoch ist die geographische Verteilung und Konzentration solcher Industrie- und Wirtschaftsregionen im deutschen Raum gleichmäßiger als in Japan und ermöglicht somit – auch aufgrund der geographisch größeren nutzbaren Landesfläche – eine weniger starke Bildung von Densely Inhabited Districts und stark bevölkerungsarmen Gebieten.

Die demographische Alterszusammensetzung der Bevölkerung ist in den einzelnen Bundesländern heterogener als in einigen der „abgelegen“ liegenden japanischen Präfekturen, wie Akita oder Shimane, obwohl auch in Deutschland, insbesondere unter jungen Menschen, eine ausgeprägte Land-Stadt-Migration existiert, z.B. aufgrund beruflicher Orientierung. Somit entwickeln sich mit der Zeit auch in Deutschland infrastrukturell schwache Regionen in jugendärmere. Deshalb ist zu berücksichtigen, dass die Präfekturen in Japan vergleichsweise kleine Verwaltungseinheiten bilden und somit aufgrund der eher geringen räumlichen Umfassung eine homogenere Alterszusammensetzung aufweisen können als die Bundesländer in Deutschland.

Die von den jeweiligen Landesstatistikämtern der Bundesländer aufgestellten Todesursachen- und Mortalitätsstatistiken zeigen ein relativ einheitliches Bild bei der Verteilung von Suiziden und Alterssuiziden über die Bundesländer – mit Ausnahme von Mecklenburg-Vorpommern – und lassen keine eindeutige Aussage über die Suizidverteilung zwischen städtischem und ländlichem Raum zu.


2.4.2 Geschlechterverhältnis

Bei der Auswertung der vom WHO erhobenen Daten der internationalen Suizidstatistik [23] ist grundsätzlich eine männliche Dominanz – mit einigen wenigen Ausnahmen – deutlich erkennbar. Dieses trifft auch auf die Statistiken in Deutschland und Japan zu und STOMPE (2008:1; vgl. auch WHO [24]) zufolge ist erkennbar, dass die Suizidverteilung nach Geschlecht sich eindeutig in Richtung der Männer entwickelt hat, d.h. im Zeitraum von 1950 bis 1995 fand ein Zuwachs von 49 Prozent bei den Männern und 33 Prozent bei den Frauen statt. Somit hat sich das Geschlechterverhältnis in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in Richtung der Männer verschoben.

Abbildung 9: Suizide der Männer in Japan nach Altersklasse und zeitlichem Verlauf
Quelle: Eigene Darstellung nach MHLW 2007 (S. 46-47) MHLW 2009 (S. 52-53).




















Abbildung 10: Suizide der Frauen in Japan nach Altersklasse und zeitlichem Verlauf
Quelle: Eigene Darstellung nach MHLW 2007 (S. 46-47) MHLW 2009 (S. 52-53).

















Betrachtet man weiterhin speziell die Entwicklung der Suizidraten der über 65-Jährigen in Japan seit 1950 bis ins Jahr 2009 hinein, wird man feststellen, dass die Zahl der Suizide in der mittelbaren Nachkriegszeit bei Männern im Schnitt bei etwa 140 Suiziden pro 100.000 Einwohner lag und sich in der heutigen Zeit bei etwa fünfzig pro 100.000 Einwohner eingependelt hat (Abb. 9; S. 43). Die Suizidrate der Frauen über 65 Jahre betrug sowohl in der Nachkriegszeit als auch heute rund die Hälfte der männlichen Raten, d.h. in der Nachkriegszeit betrug die Rate rund 90 Suizide pro 100.000 Einwohnern und sank bis 2009 auf etwa zwanzig Suizide pro 100.000 Einwohner. Somit liegt der Anteil der Frauen an der Gesamtsuizidrate bei rund einem Drittel (Abb. 10).

Während die japanische Geschlechterverteilung beim Suizid in der Mitte der achtziger Jahre relativ ausgeglichen war, waren 2006 71,6 Prozent aller Suizide von Männern verübt worden - mit zunehmender Tendenz (NAIKAKUFU 2006: 5; Anhang: Abb. 22; S. 72). In Japan betrug im Jahr 2007 die absolute Zahl der männlichen Suizidenten über 65 Jahren 5.293, die der Frauen lag bei 3.183, womit die Männer insgesamt etwa 62,5 Prozent aller Alterssuizide, die Frauen hingegen für nur 37,5 Prozent verübt hatten.

Die durchschnittliche Anzahl an männlichen Suizidenten über 65 Jahren betrug 2007 in Deutschland 46,5 pro 100.000 Einwohnern, für Frauen lag die Rate bei 12,9 und entspricht somit in etwa dem japanischen Niveauunterschied. Die absoluten männlichen Alterssuizidfälle im Jahr 2007 lagen bei 2.351 und die weiblichen bei 1.033, womit in Deutschland der Anteil der männlichen Suizidenten bei rund 69,5 Prozent und der der weiblichen bei etwa 30,5 Prozent lag.

Mithin haben Frauen in Japan einen ungleich höheren Anteil an den Suiziden im höheren Lebensalten. Eine mögliche Erklärung hierzu wird in Abschnitt 3.2 vorgestellt.

Allgemein lässt sich somit feststellen, dass der Suizid eine männliche Domäne im geschlechtsspezifischen Sinne darstellt. Dieses starke Missverhältnis zu Gunsten der Männer lässt Spielraum für eine Vielzahl von Interpretationen und Problemanalysen. Anscheinend fehlen Männern die Möglichkeiten, um sich den veränderten Lebensbedingungen im Alter anzupassen, während sie gleichzeitig offenbar eine stärkere Wandlung ihres Selbstbildes erfahren und die im und durch das Alter erlittenen Statusverluste intensiver empfinden als Frauen. Solch ein sich der Außenwelt widersetzendes Verhalten kann aber eine gewollte Eigenschaft und Teil des empfundenen Selbstbildes sein. Zusätzlich kann auch das höhere hormonell bedingte und teils auch charakterliche Aggressionspotential ursächlich für den „Männerüberschuss“ beim Suizid sein (siehe auch Abschnitt 2.2.1 und 2.3).


2.4.3 Sozioökonomischer Status

Der sozioökonomische Status soll dabei helfen die wirtschaftliche und soziale Stellung eines Individuums bzw. einer Gruppe innerhalb der Gesellschaft verorten zu können. Diese Verortung erfolgt sowohl durch die Einbeziehung von Faktoren wie Bildung, Einkommen, Gruppenzugehörigkeit, Wohnort, als auch durch den Erwerb und Besitz sozialer Positionen. Eine überdurchschnittliche Verfügbarkeit von Vermögen eröffnet dementsprechend auch die Möglichkeiten andere Faktoren wie Bildung (Nachhilfeschulen, etc.), die Gruppen-zugehörigkeit (durch exklusiveren Lebensstil, Kleidung, etc.) und das soziale Ansehen zu steigern und somit insgesamt den sozioökonomischen Status zu verbessern.

Interessant wäre es deshalb in diesem Hinblick die Wirkung des sozioökonomischen Status auf die Mortalität zu betrachten. Ansatzweise stellten MOSK und JOHANNSON (1986: 416) über die Zeit hinweg vier allgemeine Typen einer Beziehung zwischen Pro-Kopf-Einkommen und der Mortalität her, die, gekennzeichnet durch strukturellen Wandel und gesellschaftliche Entwicklungen, in einander übergehen und sich ersetzen. Beschrieben wird die Entwicklung in Japan seit dem Feudalismus. Dabei entspräche Stage 1 in Abbildung 11 (S. 45) dem Feudalzeitalter, welches geprägt war durch eine hohe Sterblichkeit und geringe Lebenserwartung. Paradoxerweise war ein höheres Einkommen für eine erhöhte Mortalität verantwortlich. Die Erklärung dieses Phänomens ist insbesondere in der in den Städten herrschenden hohen Ansteckungs- und Sterberate aufgrund von Infektionskrankheiten, die hohe Verbreitung fanden aufgrund der Enge, den damaligen schlechten hygienischen Bedingungen und der fehlenden medizinischen Gegenmaßnahmen, z.B. Impfungen, zu sehen.

Abbildung 11: Querschnitts-Verhältnis zwischen Mortalität und Einkommen über einen zeitlichen Verlauf auf einem regionalen Level
Quelle: MOSK / JOHANNSON (1986): 420.




















Da Vermögende überwiegend im städtischen Raum wohnhaft waren, erklärt sich somit die Kopplung der erhöhten Sterblichkeit und des Einkommens. Aus eben diesem Grund wiesen ländlich lebende Bauern sogar eine durchschnittlich höhere Lebenserwartung auf als deren Landesherr. Mit der einsetzenden Industrialisierung sank unerwarteterweise das bislang positive Verhältnis zwischen Pro-Kopf-Einkommen und Mortalität, obwohl es hätte zunehmen müssen aufgrund der Entstehung von neuen, gefährlichen Industriearbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen (MOSK und JOHANNSON 1986: 423). Durch den wirtschaftlichen Auftrieb entstand aber eine neue große Gruppe an Steuerzahlern, die es dem Staat ermöglichte Gesundheitssysteme zu etablieren, in diese zu investieren und somit im Allgemeinen die Gesundheit zu verbessern und die Mortalität durch die Einführung von Impfungen (z.B. Pocken), den Bau von Krankeneinrichtungen etc. zu senken. Weitere Senkungen der Sterblichkeit sind auf medizinische Fortschritte, z.B. die Einführung von Antibiotika und die intensivere Bereitstellung von und Verpflichtung zu schulischer Bildung zurückzuführen und sind als Stage 4 gekennzeichnet, die momentan den gegenwärtigen Stand widerspiegelt. Japan hat die vier beschriebenen Phasen allerdings schneller durchschritten als jede andere betrachtete Nationen. Ursächlich dafür seien der späte industrielle Start und die schnelle Adaption an die damaligen Bedürfnisse, z.B. aufgrund der schon niedrigen Kosten für Vakzine, durch deren weltweite Verbreitung und der erfolgreichen Fehlervermeidung aufgrund der Erfahrungen in anderen Nationen.

Abbildung 12: Abbildung der umgekehrtes-J-förmigen Mortalitäts-Einkommenskurve
Quelle: MOSK / JOHANNSON (1986): 424. (Anm.: Die Ziffern entsprechen den Stadien in Abb. 11.)
























MOSK und JOHANNSON beschreiben weiterhin, dass diese Entwicklung der Einkommen-Mortalität-Beziehung einen langfristig oszillierenden Verlauf hat und verdeutlichen dieses anhand einer J-förmigen-Kurve (Abb. 12). Demnach sei in Zukunft eine stärkere Verknüpfung zwischen niedrigem Einkommen und höherer Mortalität zu erwarten, so wie sie in Stage 3 der Abb. 11 dargestellt wird. Auch BECKFIELD (2004: 236-238) verdeutlicht die positive Beziehung zwischen dem Bruttoinlandsprodukt (GPD) pro Kopf und der Lebenserwartung, verweist aber darauf, dass die Daten in Industrienationen „shows no evidence that rising income inequality has harmed health“ (238). Dies ist in dem Kontext zu betrachten, dass wirtschaftliche Entwicklungen einen zeitlichen Vorlauf haben vor sozialen Veränderungen und sich die Auswirkungen, wie stagnierende oder zurückgehende Lebenserwartung oder steigende Mortalität, erst nach einem längeren Zeitraum feststellen lassen.

Der sozioökonomische Status setzt sich zwar nicht nur aus dem Einkommen zusammen, jedoch bildet dieses – wie eingangs erwähnt – den grundlegenden Faktor für einen allgemein höheren sozioökonomischen Status. Fällt die bisherige Einkommensquelle weg, sind der Status, der Lebensstil und oft auch das Selbstbild nicht mehr aufrecht zu erhalten. Inwieweit dieses einen Einfluss auf die Suizidrate hat, führt MOTOHASHI (2005: 97) aus, indem er darauf verweist, dass eine starke Korrelation zwischen dem Anstieg der Arbeitslosenrate und der Suizidrate besteht.

Des Weiteren bestehe KANEKO und MOTOHASHI (2006: 116) zu Folge eine Korrelation zwischen schweren Depressionen und einer Suizidneigung, wobei diese in einem Milieu mit einem niedrigen sozioökonomischen Status häufiger vorkämen. Sie vermuten die Ursache in den durch eine geringe Erkennungskompetenz hinsichtlich psychischer Erkrankungen [25] geschmälerten Möglichkeiten Depressionen und deren Anzeichen zu erkennen und behandeln zu lassen. Dieses würde generell für ältere Generationen und spezieller für die Männer gelten, weshalb diese eine erhöhte Suizidtendenz aufweisen:
„poor mental health literacy is strongly related to male gender and a lower level of education [...] [and] may possibly be a factor contributing to male vulnerability to suicide“ (2006: 118).
Ein sinkender sozioökonomischer Status tritt naturgemäß mit steigendem Alter ab der Lebensmitte auf: soziale Kontakte werden aufgrund dahingeschiedener Freunde und Bekannte geringer, das Einkommen sinkt und der Lebensstil ändert sich.

BRONISCH (1995: 69-72) merkt darüber hinaus an, dass erhöhte Suizidraten in Wohngebieten existieren, die erhöhte Raten an Jugendkriminalität, Hausfriedensbruch, Mietmissständen etc. aufweisen. Dabei ist davon auszugehen, dass in diesen Wohngebieten der sozioökonomische Status durchschnittlich niedriger liegt, als in vergleichbaren anderen Stadtgebieten. Zwar wäre dies als weiteres Indiz für die These, dass Menschen, deren Status eher niedrig ist, häufiger Suizid begehen zu sehen, doch gilt es zu beachten, dass diese lokal in Stadtvierteln gehäuft auftreten Suizide auch auf die Imitationshypothese („Werther-Effekt“) zurückgeführt werden könnten und deshalb nicht zwangsläufig ein Zusammenhang zwischen Einkommen und Mortalität bestehen muss.


2.4.4 Zwischenfazit

Bezugnehmend auf die eingangs gestellte Frage drei und vier kann man zwar keinen allgemein gültigen Alterssuizid-Typ feststellen, jedoch wurde gezeigt, dass Alterssuizide primär von Männern verübt werden, häufiger im ländlichen Raum stattfinden und eng gebunden sind an den sozioökonomischen Status des Individuums.

Bei einer detaillierten Betrachtung wird ersichtlich, dass die Verteilung der Alterssuizide sowohl in Japan als auch in Deutschland eine ähnliche, männlich dominierte Struktur aufweist, so dass rund zwei Drittel aller im Alter verübten Suizide von Männern begangen werden.

Des Weiteren scheint in Japan eine eindeutige regionale Verteilung zu bestehen, da Alterssuizide verstärkt in ländlich geprägten Präfekturen auftreten als im städtischen Raum. In Deutschland existiert dagegen ein diffuses Bild: sowohl die Alterssuizidraten in Städten als auch auf dem Land sind nicht deutlich einordbar und liegen dicht beieinander. Einzig Mecklenburg-Vorpommern zeigt bei Männern ab 85 Jahren einen Ausreißer nach oben.

Der sozioökonomische Status hat einen stärkeren Einfluss auf die Suizidrate, insbesondere dann, wenn ungewollte und aufoktroyierte Änderungen auftreten und der bisherige finanzielle Rahmen und die ideelle Lebensführung nicht mehr aufrecht erhalten werden können. Der mit dem Alter sinkende sozioökonomische Status scheint somit die Suizidtendenz zu begünstigen.


Fußnoten:

[22] Hierzu sind beispielweise die Präventions-Kampagnen der Präfektur Akita interessant (vgl. Akita Journal of Public Health, Vol. 2, Special Issue, February 2005).

[23] WHO: Suicide rates per 100,000 by country, year and sex.

[24] WHO (2002): Evolution of global suicide rates 1950-2000.
http://www.who.int/mental_health/prevention/suicide/evolution/en/index.html (20.03.2010).

[25] Freie Übersetzung des Verfassers für den Terminus „poor mental health literacy“.




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