1.3 Ziel und Aufbau der Arbeit
Im Folgenden Abschnitt werden die Motivation, die Zielsetzung und die Thesen dieser Arbeit dargelegt und erläutert.
1.3.1 Motivation
Das Thema des Alterssuizids ist aufgrund der demographischen Entwicklung im Allgemeinen und der rapiden Alterung der japanischen und deutschen Gesellschaft im Speziellen sehr interessant.
In Japan lag im Jahr 2008 der Anteil der Menschen über 65 Jahren bei 22,1 Prozent. Prognosen und Schätzungen über die zukünftige Bevölkerungsentwicklung sagen einen stetig ansteigenden Zuwachs der Altenbevölkerung voraus und schätzen ihn im Jahr 2030 bei rund einem Drittel der Gesamtbevölkerung ein [11]. Unter der Berücksichtigung der Zunahme der Altenbevölkerung kann von einer Zunahme der absoluten Zahlen beim Alterssuizid ausgegangen und die Entwicklung interessanter Szenarien, Probleme und Lösungsansätze erwartet werden.
Aufgrund meines Nebenfachs Soziologie bearbeitete ich ein Referat mit dem Thema „Soziale Ungleichheit und ökonomische Dualstruktur“, welches eine erste, oberflächliche Auseinandersetzung mit dem Alterssuizid für mich beinhaltete und mir die Größenordnung der Problematik verdeutlichte. Mein Interesse an dieser Thematik wurde im Folgenden in dem Hauptseminar „Soziale Ungleichheit und ökonomische Dualstruktur“ unter der Leitung von Herr Dr. Günther Distelrath und Herr Dr. Hans Dieter Ölschleger verstärkt. Anteilig wurden hier Themen der sozialen Ungleichheit behandelt, denen jeder Mensch „ausgesetzt“ ist und die sich in unterschiedlichen Formen äußern können, z.B. in der Verteilung lebensbestimmender Ressourcen und Lebenschancen.
1.3.2 Fragestellung
Die der Arbeit zu Grunde liegenden Fragestellungen sollen die Folgenden sein:
a) Welchen quantitativen Stellenwert nimmt der Suizid bei den Todesursachen älterer Menschen ein?
b) Welches sind die Ursachen und Motive, die zur Selbsttötung im höheren Lebensalter führen? Existieren Unterschiede in Bezug auf männliche und weibliche Suizidenten?
c) Ist eine räumlich eindeutige Verteilung von geriatrischen Suizidfällen feststellbar?
d) Inwiefern hat der sozioökonomische Status Einfluss auf den Alterssuizid, besonders unter der Berücksichtigung der Antwort auf Frage c?
Die Beantwortung dieser Fragen wird zuerst einen Überblick verschaffen über die Quellen- und Datenlage, sowie grundsätzliche Probleme der Mortalitätsdaten und deren Erfassung. Gleichzeitig wird die Aktualität der Thematik für die heutige „alternde Gesellschaft“ Japans und der allgemeinen demographischen Entwicklung dargestellt.
DURKHEIM formulierte die Theorie des Suizids als Resultat mangelhafter bzw. fehlender Integration in eine Gesellschaft – er bezeichnet diesen als „anomischen Suizid“. Diese entwickelte Theorie hält sich bis heute, z.B. in den Diskussionen um Modernisierung und Wertewandel einer Gesellschaft. Eine rein soziologische Theorie für die Ursachen des Suizids halte ich jedoch nicht für ausreichend, weshalb Theorien und Ansätze anderer wissenschaftlicher Fachrichtungen, welche Suizidhandlungen zu erklären versuchen, zusammenfassend vorgestellt werden.
Bei den Mortalitätsdaten ist häufig eine lokal auffällige Verteilung von Suizidfällen zu beobachten. Nach Ländern getrennt und sehr grob zusammengefasst, ist in Japan der Alterssuizid eher im ländlichen, bevölkerungsärmeren Raum vorzufinden, z.B. Tôhoku-Gebiet, während Metropolen im Bereich des Pazifik-Gürtels geringere Raten aufweisen. In Deutschland ist ein gegensätzliches Auftreten zu verzeichnen, so dass Städte höhere Suizidraten aufweisen und ländliche Gegenden geringere. Erklärungsansätze für diese Besonderheit sollen im Verlauf der Arbeit geliefert werden.
Eine mögliche Beziehung des soziökonomischen Status und der Alterssuizidraten soll ebenfalls untersucht werden. Bekannt ist, dass ein hoher sozioökonomischer Status einen verlängernden Einfluss auf das zu erreichende Lebensalter hat (vgl. MACKENBACH 2006: 8-10, 13-16). Menschen mit höherer Bildung, angesehenem Beruf, größerem finanziellen Spielraum und daraus in der Regel resultierender besserer Gesundheitsvorsorge leben länger als jene, die solche Vorzüge nur in geringerem Maße aufweisen können. Mit diesem Hintergrundwissen ist mithin die Erarbeitung dieser Frage interessant, da zwischen den aufgezeigten Phänomenen ein Zusammenhang zu bestehen scheint.
1.3.2 Hypothesen
Der vorliegenden Arbeit liegt zunächst die Hypothese zugrunde, dass die relative Alterssuizidrate in Japan höher ist als die in Deutschland. Die Gründe hierfür liegen in der geringeren Verbreitung abendländischer Religionen in Japan und damit auch einer „toleranteren“ moralischen Bewertung der Suizidhandlung durch religiöse Instanzen. Trotz allem wird auch in Japan eine dem Suizid ablehnend gegenüberstehende öffentliche Diskussion über die wiederkehrenden Suizidfälle an beliebten, mythischen und durch Literatur bekannten Orten (z.B. Aokigahara), sowie über die Veröffentlichung von als Suizid fördernd geltender Literatur, wie z.B. das Kanzen jisatsu manyuaru von WATARU, welches teils heftige Kontroversen und sehr kritische Reaktionen in Japan hervorrief, geführt.
Als weitere Hypothese wird angeführt, dass der Alterssuizid in Japan eher aus altruistischen Motiven ausgeführt würde, während in Deutschland eher eine egoistische Motivation im Durkheim‘schen Sinne im Vordergrund steht. Es besteht die Vermutung, dass Suizidenten höheren Alters in Deutschland die Selbsttötung eher vollziehen, um die Schmerzen und Einschränkungen des Alltagslebens aufgrund einer chronischen Krankheit zu beenden, während in Japan ältere Menschen häufiger Suizid begehen, um Familienangehörigen und Bekannten durch ihre Pflegebedürftigkeit aufgrund von chronischen Alterskrankheiten nicht zur Last zu fallen.
Als Nebenhypothese wird schließlich angeführt, dass die Alterssuizidrate in Ballungsgebieten aufgrund des breiteren Angebots an Möglichkeiten zum selbstständigen Leben im höheren Alter, z.B. Pflegedienste, Freizeitangebote, etc., niedriger ist und somit die Rate der altruistischen Alterssuizide dort geringer sein sollte.
Fußnoten:
[11] STATISTICS BUREAU. MINISTRY OF INTERNAL AFFAIRS AND COMMUNICATIONS JAPAN: (2009): Statistical Handbook of Japan 2009.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen